Neue Nazis - Die Patchwork-Nazis

 

Nirgends hat sich die extreme Rechte so gewandelt wie in der Jugendkultur. Die »Autonomen Nationalisten« verbinden Coolness mit Hitlerismus – und offener Gewalt

Die Polizei staunte nicht schlecht: Im Dezember 2003 tauchten bei einem Naziaufmarsch in Berlin plötzlich 30 schwarz gekleidete Jugendliche mit roten Fahnen auf, einige trugen T-Shirts mit dem Porträt des weltweit von linken Aktivisten verehrten Ernesto „Che“ Guevara. Die Beamten hielten die Gruppe für Gegendemonstranten und stoppten sie. Doch die Jugendlichen gaben sich als Neonazis zu erkennen. Auf Nachfrage von Journalisten, was denn die rote Fahne bedeuten solle, antwortete die Gruppe, sichtlich stolz auf ihren Scherz: Sie hätten da wegen der aktuellen Gesetzeslage leider zwei Symbole weglassen müssen. Gemeint waren der weiße Kreis und das Hakenkreuz, mit denen zusammen ihre Fahne jene der NSDAP ergäbe.

Die Überraschung war groß. Neonazis, die wie Linke aussehen? Die bewusst mit der Vereinnahmung der Symbolik und Ästhetik der politischen Gegner spielen? Das brachte in den folgenden Jahren nicht nur die Sicherheitsbehörden durcheinander; auch in der rechtsextremen Szene selbst wussten und wissen bis heute viele nicht, was sie von dem Phänomen halten sollen. Doch was vor einem Jahrzehnt als bizarre Provokation durch eine Handvoll Aktivisten begann, ist heute fester Bestandteil des deutschen Rechtsextremismus. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Aufmarsch, bei dem nicht auch die aggressiven jungen Männer und Frauen von den „Autonomen Nationalisten“ (AN) auftauchen. Und unter jugendlichen Neonazis sind sie inzwischen die vermutlich stärkste Gruppierung – die klischeehaften Skinheads im Glatze-Bomberjacke-Springerstiefel-Look gibt es kaum noch.

Die Autonomen Nationalisten kleiden sich gern ganz in Schwarz, sie tragen Kapuzenpullover, Baseball-Mützen und Sonnenbrillen. Sie sind aggressiv und bekämpfen politische Gegner gezielt mit Gewalt. Auf Demonstrationen versuchen sie, durch einen militanten Habitus Stärke zu zeigen gegenüber dem ihnen verhassten Staat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht davon aus, dass die AN deutschlandweit inzwischen rund tausend Anhänger zählen, das entspräche knapp einem Fünftel des gesamten gewaltbereiten Neonazi-Spektrums. Und während die NPD zumindest nach außen versucht, ihre Verehrung des historischen Nationalsozialismus’ zu verschleiern, bekennen sich die Autonomen Nationalisten offensiv zur NS-Ideologie. Sie fordern einen „Nationalen Sozialismus“ und sehen sich als Nachfolger von Hitlers SA-Schlägertrupps. Das bemüht bürgerliche Auftreten der NPD hingegen gilt den AN als Zeichen der Schwäche.

Die Autonomen Nationalisten zeigen am deutlichsten, wie sehr sich der Rechtsextremismus im letzten Jahrzehnt gewandelt hat – und mit ihm die Möglichkeiten, neue Anhänger zu rekrutieren. „Ob du Hip-Hopper, Rapper oder sonst irgendwas [bist], ob du Glatze oder lange Haare hast: Völlig egal! – Hauptsache du bist gegen das herrschende System!“, heißt es einladend in einem Handbuch der Autonomen Nationalisten, das seit 2008 in der Szene kursiert. Die AN haben richtig erkannt: Die strengen Dogmen anderer rechtsextremer Vergemeinschaftungsangebote, seien es martialische Skinheads oder gescheitelte Braunhemden, sprechen heute noch weniger Jugendliche an als früher – das hippe und sportliche Auftreten der AN hingegen schon. Statt öde Schulungsabende oder „Latschdemos“ wie die NPD, bieten die AN einen Abenteuerspielplatz. Sie propagieren den „Do-it-yourself-Aktivisten“, der relativ eigenständig oder nur mit wenigen direkten Mitstreitern entscheidet, was er wann tut. Und anders als die Parteijugend JN gelingt es den Autonomen Nationalisten, sich authentisch als rebellische Jugendbewegung zu geben. Freihändig klauen diese neuen Nazis, was sie der linken Szene neiden: Mode und Ästhetik, politische Aktionsformen und coole Sprüche.

Zudem tummeln sich die AN ganz selbstverständlich im Internet: Ihren professionell produzierten Webseiten und YouTube-Videos ist deutlich anzu­merken, dass sie die ersten Digital Natives der extremen Rechten sind. Und für den eigenen Alltag hat es ganz handgreifliche Vorzüge, dass die AN nicht mehr einem klar vom jugendlichen Massengeschmack abgegrenzten Dresscode folgen müssen. Die Symbole und Codes ihrer Szene können nur Eingeweihte entschlüsseln, was es ermöglicht, sich weitgehend unerkannt und ohne gesellschaftliche Sanktionen zu bewegen. In der Schule, am Arbeitsplatz oder auf der Straße müssen sie sich so kaum noch für ihre rechtsextreme Gesinnung rechtfertigen.

Die Autonomen Nationalisten schaffen, was bislang in der rechtsextremen Szene als Ding der Unmöglichkeit galt: Sie leben gleichzeitig verschiedene Identitäten. Sie können am einen Tag Hip Hop hören und Pizza essen, am nächsten beim Aufmarsch für eine „reine Volksgemeinschaft“ mitlaufen. Von Patchworkidentitäten sprechen Soziologen: Man mischt zusammen, was gefällt. Ein Trend, der schon länger bei Jugendlichen zu beobachten ist – nun ist er auch in der Naziszene angekommen.

Anything goes: HipHop und Hitler-Büste, Nazischeitel und Kapuzenpulli

Die Suche nach den Anfängen der Autonomen Nationalisten führt nach Berlin. Dort gründete sich im Jahr 2000 die „Kameradschaft Tor“ (KS Tor) – anfangs eine ganz normale Neonazi-Kameradschaft, wie sie als lose organisierte Trupps junger Rechtsextremer seit Mitte der neunziger Jahre bundesweit entstanden. Doch die rund 15 Mitglieder des inneren Kerns wohnten fast alle im Stadtteil Lichtenberg, und der grenzt an den seit 1989 von der Hausbesetzerbewegung geprägten Bezirk Friedrichshain. Ihre Lebenswelt war eine völlig andere als die einer traditionellen Kameradschaft in einem Dorf irgendwo in Brandenburg, ihre Jugend prägte das urbane Umfeld. Sie mussten nur zwei Stationen mit der U-Bahn fahren, um die Erfolge von Linksalternativen tagtäglich vor Augen geführt zu bekommen: Hausprojekte, florierende Kneipen und Konzertorte oder auch die als sehr durchsetzungsfähig empfundene Demonstrationstaktik des Schwarzen Blocks der Autonomen.

Die eigene Szene hingegen empfanden sie als öde, Kleidungsstil und Musik als unzeitgemäß – die selbstbewussten Jung-Neonazis aber, kaum jemand war älter als zwanzig, wollten auch cool sein. Von den Strukturen her war die KS Tor eine klassische Kameradschaft, man zahlte Mitgliedsbeiträge, traf sich jedes zweite Wochenende in Kneipen oder Privatwohnungen, um Aktionen zu planen. Inhaltlich vertrat die Gruppe einen „dogmatischen, nationalsozialistischen Führerkult“, aber nach Außen begann sie sich stilistisch zu modernisieren. Die Jung-Neonazis fingen an, sportliche Kleidung zu tragen, Turnschuhe, Cargohosen und Kapuzenpullover. Sie merkten schnell, dass man so in der Masse der Großstadt untertauchen konnte und auf andere Jugendliche nicht abschreckend wirkte wie die kahlgeschorenen Saufnazis aus der Rechtsrockszene.

Es entbrannte ein Generationenkonflikt mit den alteingesessenen Führungskadern des Berliner Neonazimilieus – was ihre Abgrenzung von den etablierten Strukturen nur noch beschleunigte. Nur zur NPD hielt die KS Tor über den rechtsextremen Liedermacher späteren Landesvorsitzenden Jörg Hähnel stets gute Kontakte. Hähnel, damals selbst noch unter dreißig, hatte ein Gespür dafür, wie er die junge Truppe trotz ihrer Eigensinnigkeit an die Partei binden konnte. Zumindest bei einem der beiden KS-Tor-Gründer ging es wohl auch um die Abgrenzung gegenüber seinem Vater, einem Ex-Stasi-Major und heutigem DKP-Mitglied. Der Vater war seit 1992 Anmelder der Luxemburg-Liebknecht-Demonstrationen, bei der sich in DDR-Tradition jeden Januar Tausende Linke in Ost-Berlin treffen – im Jahr 2002 wurde sein Sohn mit einem zweiten KS-Tor-Mitglied festgenommen, als sie Parolen und Nazisymbole gegen den Aufzug an Häuserwände entlang der Route schmierten.

Im selben Jahr tauchten erste Aufkleber der KS Tor mit dem fiktiven Gruppennamen „Autonome Nationalisten Berlin“ auf. Bei einem NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2003 wurde erstmals ein Transparent mit dem Schriftzug „Autonome Nationalisten“ gezeigt – mitgebracht hatten es Kameraden aus Dortmund, die zu jener Zeit einen ähnlichen Prozess wie die KS Tor durchmachten und in engem Kontakt mit den Berlinern standen. Im Forum der später gehackten Website freier-widerstand.net, die junge Neonazis aus dem Ruhrgebiet betreuten, wurde das neue Konzept in der Folgezeit maßgeblich diskutiert und propagiert. 2004 gründete die KS Tor – damals für die Szene sehr untypisch – eine eigene „Mädelgruppe“, deren Kern aus vier Frauen bestand. Der einzige Aufkleber der Gruppe verdeutlicht die Diskrepanz zwischen selbstbewusstem Auftreten und traditionell-rechtsextremem Weltbild: Die bekannte Comicfigur der aufmüpfigen „Emily the Strange“ wurde mit der Parole „Auch ohne Emanzipation stark“ kombiniert.

In der Folgezeit nutzte die KS Tor immer offensiver popkulturelle Elemente der alternativen Szene. Bei einer Störaktion gegen das Richtfest des Denkmals für die ermordeten Juden Europas entfaltete sie ein Transparent mit einem Liedzitat der Popband Wir sind Helden. „Hol den Vorschlaghammer – Sie haben uns ein Denkmal gebaut.“ Auch das Verwirrspiel mit der Kleidung genossen die KS-Tor-Mitglieder sichtlich. Während sie auf den meisten Veranstaltungen im urbanen Outfit mit schwarzen Windjacken und Sonnenbrillen zu sehen waren, tauchten sie beim Rudolf-Hess-Marsch 2004 in Wunsiedel plötzlich uniform im NS-Trachten-Look auf mit weißen Kragenhemden und wallenden Röcken. Die neue Offenheit der AN erlaubte ihnen, mehrere Identitäten auszuleben, ohne sich um die damit verbundenen Widersprüche zu kümmern. Sie konnten parallel AN-Straßenkämpfer und völkische Scheitel-Nazis sein, hatten in ihrer WG eine Hitler-Büste stehen und in der CD-Sammlung Scheiben des HipHop-Labels Aggro Berlin. Dieser extreme Spagat kennzeichnet die AN-Szene bis heute.

Zu einem von der NPD angemeldeten Aufmarsch am 1. Mai 2004 in Berlin riefen Autonome Nationalisten erstmals offiziell dazu auf, einen „NS Black Block“ zu bilden: Nach Vorbild der Linken sollte es „Blockaden, Besetzungen, Verweigerungen“ geben. „Es ist an der Zeit, dass wir … damit beginnen, uns neu zu organisieren“, hieß es in einem Aufruf in einem rechtsextremen Internetforum. „Der gewaltfreie, friedliche Kampf hat fast 60 Jahre stattgefunden, und wir haben nichts erreicht. Es ist unverantwortlich, wenn heute noch Kameraden davon reden, absolut und situationsunabhängig gewaltfrei zu bleiben.“ Schon diese Ankündigung sorgte für heftigen Streit mit älteren Neonazis und der NPD. So erhob der Hamburger Neonazi Christian Worch sofort einen typisch völkischen Homogenitätsanspruch: Bei einem rechtsextremen Aufzug brauche man „keinen schwarzen Block, denn unser Zug ist EIN Block“. (Einige Zeit später änderte Worch seine Meinung und zeigte deutliche Sympathien für die Autonomen Nationalisten.) Aus dem traditionellen ostdeutschen Kameradschaftsspektrum kam die Warnung, ein allzu militantes Auftreten könnte „Angst im Volk erzeugen“, das man doch eigentlich gewinnen wolle. „Wer unsere politischen Zusammenhänge mit einem Abenteuerspielplatz verwechselt, sollte lieber ganz schnell aus unseren Reihen verschwinden.“ Später folgte ein ausführlicher Kommentar aus dem Aktionsbüro Süddeutschland um den Münchner Neonazi Norman Bordin: „Wir nationalen Sozialisten sind durch eine gemeinsame Weltanschauung, unter anderem basierend auf den drei Eckpfeilern Arbeit – Ehrlichkeit – Sauberkeit, miteinander verbunden und nicht durch einen von HipHop-Musik geprägten ‚Lifestyle’.“ In den eigenen Reihen akzeptiere man keine Leute, „die sich kleiden wie unser Gegner, sich benehmen wie unser Gegner und den Großteil seiner ‚politischen’ Agitationsformen übernehmen“.

Zwar zählte der großspurig angekündigte Block am 1. Mai 2004 nur rund 150 Schwarzgekleidete, und abgesehen von kleineren und erfolglosen Rangeleien mit der Polizei gingen keine Aktionen von ihm aus. Doch in der Szene war der Mythos eines schlagkräftigen „NS Black Block“ geboren, der angeblich Polizeiketten durchbrochen hatte. Es folgten immer häufigere und militantere Auftritte bei rechtsextremen Aufzügen. Polizisten, Gegendemonstranten und Journalisten wurden plötzlich Ziel von Flaschenwürfen, Feuerwerkskörpern und anderen Angriffen. Solche Krawallszenen waren bei den auf Ordnung und Disziplin getrimmten Demonstrationen der NPD undenkbar – von nun an gehörten sie zur Inszenierung der AN und lockten gewaltaffine Jugendliche an, die sich früher bei den Aufzügen eher gelangweilt hätten.

Gleichzeitig trieben die Dortmunder und Berliner das Spiel mit linker Symbolik weiter. Was als Rebellion gegen die älteren Kameradschafter und als Provokation ohne langfristiges Konzept begann, verselbstständigte sich. Plötzlich tauchten Neonazis mit einem verfremdeten Logo der Antifa auf: Das runde Symbol mit einer roten und einer schwarzen Fahne war identisch, lediglich die Worte „Antifaschistische Aktion“ waren durch „Nationale Sozialisten“ ersetzt. Fortan wurden ganze Poster-Designs, Transparente und Schriftzüge linker Gruppen bis ins Detail kopiert, Sprüche persifliert oder gleich unverändert übernommen. Selbst vor Anglizismen scheute man sich nicht, etwa beim Slogan „…tler was alright ’33“ oder „Fight the system, fuck the law“. All dies war bis dahin unter Rechtsextremisten tabu. Bei Aufmärschen tönten nun aus den Lautsprechern statt dumpfem Rechtsrock populäre Lieder von den Ärzten. Dass die erklärte Nazigegner sind, wurde einfach ignoriert.

„Die AN waren für mich eine Befreiung“

Anders als von Beobachtern oft unterstellt, ging diese freizügige Übernahme linker Symbolik und Musik mit keinerlei Aufweichung rechtsextremer Ideologie einher – und sie war alles andere als eine Sympathiebekundung. Ganz im Gegenteil sahen die Autonomen Nationalisten den gewaltsamen Kampf gegen politische Widersacher von Anfang als eine ihrer Hauptaufgaben an. Die Übernahme stilistischer Elemente der Gegenseite diente allein dazu, das eigene Repertoire subkultureller Ausdrucksformen zu erweitern (und nicht zuletzt sich als Avantgarde der Neonazi-Szene inszenieren zu können). „Mittels dieses Auftretens besteht die Möglichkeit, sozusagen unerkannt, da dem bekannten Bild des 'Faschisten' entgegenlaufend, in die bisher von gegnerischen Lagern beherrschten Gebieten vorzudringen, politisch und kulturell“, rechtfertigte der Kölner Kameradschaftsführer Axel Reitz damals die Entwicklung. „Graffities sprühen, unangepasst und ‚hip’ sein können nicht nur die Antifatzkes, sondern auch wir, damit erreichen wir ein Klientel, welches uns bis dato verschlossen geblieben ist.“

Bei älteren Rechtsextremisten hingegen stieß das Auftreten der AN anfangs auf harte Kritik. Als „undeutsch“ und „entartet“ empfanden viele die Abkehr von deutsch-völkischer Bekleidung und vor allem arischer Musik. „Nicht nur dass solches Geseiere nichts mit unserer Art zu tun hat, ja ihr vollkommen fremd ist“, schäumte der Berliner Szeneveteran Oliver Schweigert, „nein, es widerspricht auch unserem politischen Wollen, welches sich gegen die von den Henkern Deutschlands gewollte sog. multikulturelle Gesellschaft richtet.“ AN-Protagonisten konterten solche Vorhaltungen: „Das Übernehmen von Emblemen, Symbolen etc. vom politischen Gegner [ist] keine neue Erfindung“, hieß es 2005 in einem Internetforum, „ganz im Gegenteil. Das haben die Nationalsozialisten auch schon gemacht.“ Ein anderer User schrieb: „Wer glaubt, dass er noch irgendwas im Layout des Stürmers werbetechnisch für uns erreichen könne, soll einfach weiterträumen.“ Der offen ausgetragene Generationenkonflikt verschaffte den AN große Aufmerksamkeit und verstärkte den Zulauf erheblich, die Rebellion des Nachwuchses gegen die verkrustete ältere Neonazigeneration wurde zum Selbstläufer. Weil die Strömung stärker und stärker wurde, dauerte es nicht lange, bis die AN in der Szene akzeptiert oder zumindest geduldet waren.

Die Autonomen Nationalisten fordern von ihren Anhängern nur bedingt „deutsche Tugenden“ wie Disziplin oder Ordnung. Für Pubertierende auf Identitätssuche sind sie deshalb attraktiver als andere rechtsextremistische Spektren. „Die AN waren wie ein Befreiungsschlag für mich“, erzählt ein früherer Aktivist. „Vorher gab es in der Naziszene Vorgaben, was Musik, Kleidung, Essen betraf. Danach musstest du dich richten. Und diesen Zwang fanden viele Leute in der Szene scheiße. [Als AN] konnte man freier sein. Du konntest hören was du willst, du konntest Döner essen gehen, du konntest alternative Klamotten tragen. Die Leute machten das ja auch gern. Die haben das nicht nur gemacht, damit sie jemanden ansprechen konnten, sondern weil ihnen das auch selbst gefallen hat.“

Geradezu hedonistisch erscheint ihr Lebensstil im Vergleich zu den Nazi-Skinheads, die Wert legen auf ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse; viele AN hingegen kassieren lieber Hartz IV statt zu arbeiten. Auch Familiengründung und Kinder, gemäß der völkischen Ideologie eigentlich Pflicht für Aktivisten, spielen in der Szene laut Erinnerungen von Aussteigern kaum eine Rolle – ein weiterer Widerspruch zwischen Realität und Ideologie, der ausgeblendet wird.

Den Modernisierungsprozess zu einem für Jugendliche hochattraktiven Stil, der dem rechtsextremen Spektrum jahrzehntelang gefehlt hatte, vollzogen die Autonomen Nationalisten innerhalb kürzester Zeit. Dabei war es kein Zufall, dass die neue Strömung nicht in den rechtsextremen Hochburgen in der ostdeutschen Provinz entstand, sondern in städtischen Ballungsgebieten und im Westen der Republik. Die AN sind quasi eine Reaktion auf die dortige Realität: Dort gibt es eine stärkere gesellschaftliche Gegenwehr und aufmerksamere Behörden als in vielen ländlichen Gegenden der Neuen Länder, weshalb man sich als Neonazi besser tarnt. Zudem haben Jugendliche in urbanen Gegenden wie etwa dem Ruhrgebiet oder Berlin mehr kulturelle Angebote – als Rechtsextremist muss man sich da schon etwas Besonderes ausdenken, um konkurrenzfähig zu sein.

Die Kameradschaft Tor, quasi die Urzelle der Bewegung, wurde im März 2005 vom Berliner Innensenator verboten. Doch die meisten Mitglieder machten danach in anderen rechtsextremen Gruppen weiter – und vor allem ihr politisches Konzept war zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr zu stoppen. Rasant breiteten sich die Autonomen Nationalisten aus. Spätestens 2006 waren Gruppen, die sich dem neuen Stil anschlossen, in jedem Bundesland als Teil des neonazistischen Kameradschaftsspektrums präsent.

Trotzdem bezeichnete das Bundesamt für Verfassungsschutz noch 2007 die Autonomen Nationalisten als „militante Randerscheinung“. In einer eigens produzierten Broschüre zu den AN sprach die Kölner Behörde von lediglich 150 bis 200 Angehörigen dieser Strömung – eine fatale Fehleinschätzung, wie sich im Folgejahr auf einer Maidemonstration in Hamburg-Barmbek zeigte: Allein dort versammelten sich rund 600 AN-Anhänger und gingen brutal auf Gegendemonstranten, Journalisten und Polizisten los. Die Beamten waren vom Aggressionspotenzial offenbar völlig überrascht und bekamen die Gewalttäter nur mühsam unter Kontrolle. „Wenn sich die Polizei nicht dazwischengeworfen hätte“, sagte hinterher ein sichtlich mitgenommener Einsatzleiter vor der Presse, „dann hätte es Tote gegeben.“

Der neue Sound, noch härter, noch schneller: „National Socialist Hardcore“

Dresden 2008. Mehr als hundert Leute drängen sich in einem winzigen Raum mit kahlen Betonwänden, fast ausschließlich junge, sportliche Männer. Die Szene könnte auch aus dem Musik-Video einer populären Crossover- oder Rockband stammen: Piercings, Kapuzenjacken und die aus US-amerikanischen Ghettos entlehnten Bandana-Kopftücher bestimmen das Bild. Allein die schwarz-weiß-rote Fahne an der Bühnenrückwand lässt erkennen, dass es sich nicht um den Auftritt einer x-beliebigen Hardcoreband handelt, sondern um ein Konzert der militanten Neonaziszene.

Am Mikrofon steht der damals 32-jährige René Weiße aus dem thüringischen Altenburg. Seine Arme sind bis zu den Handgelenken mit bunten Tätowierungen überzogen, er trägt Koteletten und hat übergroße Löcher in den Ohren. Seine Band Brainwash spielt den selbsternannten Musikstil „National Socialist Hardcore“, abgekürzt NSHC: Extrem schnelles Schlagzeug, harte Riffs und bis zur Unverständlichkeit geschriene Texte in englischer Sprache machen ihn aus. Es ist der Soundtrack der neuen Generation von Neonazis, die Musik der Autonomen Nationalisten. Mit dem platten Rumpel-Rechtsrock der neunziger Jahre hat sie kaum noch etwas zu tun.

Ein Video des Konzerts auf der Internetplattform YouTube ist hinterlegt mit Szenen aus dem Gazastreifen. Terroristen greifen mit Maschinengewehren und Handgranaten israelische Soldaten an und schießen selbstgebaute Raketen in Wohngebiete. „Freedom“ fordert Weiße im Refrain des Lieds, also „Freiheit“, aber eigentlich gemeint ist der Tod von Juden. Unter den Autonomen Nationalisten hat Brainwash Kultstatus. Deren erstes Album „Moments of Truth“ sei für ihn „ein ganz neues Erlebnis gewesen“, schreibt ein Rechtsextremist. „Das ist genau das Extrem, was mir Gänsehaut verschafft. Ich bin hin und weg!“

So sehr sich die extreme Rechte im letzten Jahrzehnt gewandelt hat, eines blieb unverändert: Musik ist das wichtigste Mittel zur Rekrutierung neuer Anhänger. Allerdings hat sich der Sound weiterentwickelt: Früher führte der Weg in die Szene meist über schlecht produzierten Rechtsrock, heute können rechts-offene Jugendliche zwischen verschiedensten Musikstilen wählen. Im vordigitalen Zeitalter mussten die Songs noch mühsam von Kassette zu Kassette überspielt werden, heute ist dank mp3-Datei und Internet alles kostenlos und ohne Qualitätsverlust tausendfach kopierbar. …

>> weiterlesen im Buch auf Seite 86

 
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